Heute habe ich meine 91jährigen Großmutter besucht, mit der ich zwei oder dreimal in der Woche Kaffee zusammen trinken gehe. Manchmal reden wir wenig, oft über unseren Alltag oder wir erzählen
uns alte Geschichten oder sprechen über Politik. Heute fragte mich meine Großmutter nach den letzten Tagen und ich berichtete ihr über eine eklig politische und negativ persönliche Erfahrung, die
sich gerade gestern am Samstag zugetragen hatte.
Da es keine familiären Sache waren, war das zwar kaum von Bedeutung für sie, aber sie hörte mir genau zu und antworte mit einer Geschichte aus ihrer Vergangenheit. Sie begann mit dem Worten: „Ich
bereue nicht die Dinge, die ich getan habe, sondern die Dinge die ich nicht getan habe.“ Damals hatte der zweite Weltkrieg begonnen und meine Mutter war schon geboren. Die Repressionen gegen die
deutsche Bevölkerung mit jüdischen Glauben wurden in Wiesbaden immer sichtbarer. So durften diese nicht mehr einfach Brot beim Bäcker einkaufen, sondern musste ihr Brot an einem bestimmten Platz
in der direkten Nachbarschaft meiner Großmutter abholen.
Meine Großmutter sah eine Schlange von Menschen, in der auch die Mutter einer guten Schulfreundin Irene auf ein Stück Brot wartete. Sie kannten sich, denn sie war als junges Mädchen gelegentlich
in deren großes Haus eingeladen worden. Sie traute sich nicht die Frau anzusprechen, denn sie befürchtet, dass es Ärger für die Frau geben könnte. An einem anderen Tag traf sie sie in einer
anderen Warteschlange und traute sich wieder nicht mit ihre zu sprechen, obwohl sie sich gegenseitig erkannten.
Heute bereut sie das sehr. Als sie diese Geschichte erzählte begann Sie zu weinen, denn sie hat bis heute ein sehr schlechtes Gewissen, dass sie so feige war und nicht nach ihrer Freundin Irene
und der Familie gefragt hat. Später hat sie gehört, dass Irene ins Ausland flüchten konnte, aber sie hatte nie wieder Kontakt zu ihr bekommen.
Das hat mich nachdenklich gemacht und ich dankte meiner Großmutter, denn ihre Erzählung bestärkt mich darin nicht feige zu sein, das was ich tue weiter zu tun und sich den Dingen und dem
möglichen Ärger zu stellen.
Um sie zu trösten sagte ich zu ihr, dass sie und ihre Tochter ja dafür gesorgt haben, dass sie einen Enkel hat, dem sowas nicht mehr passieren will. "Ich bereue nichts von dem, was ich bisher
getan habe und ich will nicht bedauern, dass ich etwas nicht getan habe. Dabei muss man immer geradeaus, offen und ehrlich sein! Es ist allerdings nicht der leichtere Weg, dafür zu kämpfen und
aufrecht stehen zu bleiben!" Da hat sie gelächelt und drückte mir meine Hand, um mich zu bestärken.
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