Die erste geheime Wahl, an die ich mich erinnern kann, war die Wahl der Klassensprecher in der fünften Klasse. Damals mussten wir in eine provisorische Kabine inkl. Vorhang hineingehen, um dort
einen Namen auf einen Zettel zu schreiben. Wir waren stolz endlich in einer neuen Schule zu sein und durften sogar wählen. Anbetracht dieser wichtigen Entscheidung, die wir im Alter von zehn
Jahren in geheimer Abstimmung getroffen haben, erscheint die Erfahrung, die ich kürzlich bei einer Mitgliederversammlung machen musste, geradezu grotesk.
Bei der Abstimmung über den Vorstand suchte ich nach der obligatorischen Wahlkabine und fragte bei der Wahlkommission, wo denn diese sei, um geheim abstimmen zu können. In der Vergangenheit hatte
ich schon aus Prinzip in einer Kabine oder in einem dafür vorgesehenen nahen Raum abgestimmt. Die erste Antwort war, dass ich mich ja auf den schmutzigen Boden in die Ecke setzen könnte. Ein
anderer erklärte mir, ich könnte auf dem Klo meine Stimme geheim abgeben und ein dritter schreite herum, ich sollte zum Psychiater gehen. Daraufhin erklärte ich dem Versammlungsleiter, dass ich
die Wahl anfechten würde, da keine Möglichkeit der geheimen Abstimmung bestehen würde, die aber zwingend vorgeschrieben ist. Der verwies auf einen Raum, der ca. fünfzig Meter in einem anderen
Gang entfernt sei und den meisten Teilnehmer nicht bekannt war. Nun begann ein Teil der Versammlung lauthals gegen meine Forderung zu schimpfen. Wegen meiner Beharrlichkeit wurde dann in einer
leicht verdeckten Ecke des Vorraums zwei Umzugskarton übereinandergestellt. Geheim war das nicht, denn diese provisorische Unterlage war leicht einsehbar. Unter Druck stimmte ich dort offen ab.
Zurück an meinem Platz im Saal beschwerte ich mich über diesen unzumutbaren Zustand in einer demokratischen Organisation und dass man dafür auch noch beschimpft wird, wenn man grundsätzliche
demokratischen Basics einfordert, wie geheime Abstimmungen bei Personenwahlen. Meine Tischnachbarin begann mit lauten und hässlichen Beschimpfungen und unterstellte mir ein
"Aufmerksamkeitssyndrom" und ich solle endlich Ruhe geben. Das erntete bei vielen Versammlungsteilnehmern Zustimmung und viele lachten vor Schadenfreude. Ein anderer Teil schwieg und nur wenige
waren peinlich berührt, schauten betroffen auf den Boden, schwiegen aber trotzdem.
Kurz darauf verließ ich diese Inszenierung ohne an weiteren Abstimmungen teilzunehmen. Auch zukünftig werde ich mir ersparen mit solchen Menschen, die andere wegen ihrer demokratischen
Forderungen beschimpfen oder solches Mobbing dulden, meine Zeit zu verschwenden.
Da erinnere ich mich doch lieber an meine erste geheime Wahl in der fünften Klasse zurück. Gewählt wurde Daniel. Auch seine Stellvertreterin Petra hatte meine Stimme in einer Wahlkabine bekommen,
in die keiner reinschauen konnte.
Kommentar schreiben
Werner Malchow (Montag, 27 April 2015 11:44)
Für eine Partei, die große Schwierigkeiten mit dem Wort "Unrechtsstaat" für die ehemalige DDR hatte, stellt wohl - nach zuvor hässlicher Diskussion - das Aufstellen von drei Pappkartons als Wahlkabine, das Höchstmaß an Demokratie dar. Entlarvend.
Lieber Tomas, gut so, sei weiter wachsam!